Beanstandung der Sendung "Fenster zum Sonntag" vom 19. Dezember 2020 - SRF (Alphavision)
Schlussbericht des Ombudsmanns
Sehr geehrter Herr X
Ihre Beanstandung vom 19. Dezember 2020 habe ich erhalten und am 23. Dezember 2020 die Chefredaktion von Alphavision AG zur Stellungnahme aufgefordert. Mit Schreiben vom 7. Januar 2021 ist die Stellungnahme bei mir eingetroffen.
Ich habe mir den beanstandeten Beitrag eingehend und in voller Länge angesehen, die Stellungnahme des Veranstalters gelesen und mir meine Gedanken gemacht. Ich kann Ihnen daher meinen Schlussbericht zukommen lassen.
Nach Art. 93 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) prüft die Ombudsstelle die Angelegenheit und vermittelt zwischen den Beteiligten. Sie kann insbesondere die Angelegenheit mit dem Veranstalter besprechen, oder ihm in leichten Fällen zur direkten Erledigung überweisen. Sie kann auch für eine direkte Begegnung zwischen den Beteiligten sorgen, Empfehlungen an den Programmveranstalter abgeben oder die Beteiligten über die Zuständigkeiten, das massgebende Recht und den Rechtsweg orientieren. Nach Art. 93 Abs. 2 RTVG hat die Ombudsstelle keine Entscheidungs- oder Weisungsbefugnis.
Beanstandung
„Fenster zum Sonntag. Aussage von Giuseppe Gracia: „Schauen Sie die heutige Weltkarte an. Überall, wo das Christentum praktiziert wird, werden die Menschenrechte eingehalten. Wo andere Religionen vorherrschen (Indien, Afrika etc) werden die Menschenrechte missachtet“. Was für ein arroganter, erzkatholischer und erzkonservativer Fundamentalist. Warum gibt SRF diesem Scharfmacher eine Plattform? Für mich ist das Fenster zum Sonntag mehr als nur fragwürdig. (...) Neben der hanebüchenen Behauptung, dass nur die christlichen Staaten die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten und durchsetzen, ruft Herr Giuseppe Gracia zum Hass gegen Lesben, Schwule und Transgender auf. Ich weiss aus meinem Familien- und Bekanntenkreis, dass viele mein Entsetzen teilen.“
Stellungnahme Veranstalter
«Aussagen von Giuseppe Gracia: ‘Schauen Sie die heutige Weltkarte an. Überall, wo das Christentum praktiziert wird, werden die Menschenrechte eingehalten. Wo andere Religionen vorherrschen (Indien, Afrika etc.), werden die Menschenrechte missachtet!’» Bei der beanstandeten Sendung handelt es sich um einen Talk in der Reihe von FENSTER ZUM SONNTAG, in dem Moderator Ruedi Josuran jeweils mit bekannten und unbekannten Gästen aus unterschiedlichsten Erfahrungs- und Lebenswelten ins Gespräch kommt. Im Zentrum steht jeweils der persönliche Bezug des Gastes zu Themen der Glaubens- und Lebensgestaltung. In der Sendung «Welt ohne Weihnachten» steht deshalb der individuelle Werdegang des Gastes Giuseppe Gracia im Zentrum: Seine schwierige Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, sein zeitweises Aufwachsen in einer Pflegefamilie, seine Prägung durch den Marxismus und den Umgang in der intellektuellen linksautonomen Szene, seine Beschäftigung mit christlichen Philosophen und Theologen und sein Wandel zum katholischen Christen. Auf diesem Hintergrund erläutert Gracia im letzten Teil die Idee seines Romans «Der letzte Feind» - der Gegenüberstellung von einer multikulturellen Wohlfühlgesellschaft ohne Religion zu einer Gesellschaft, die von menschlichen Werten auf der Basis der Liebe Gottes geprägt wird. Dabei stellt er die These in den Raum, dass Humanismus und Menschenrechte stark vom Christentum geprägt wurden: «Denn woher kommen z.B. die Menschenrechte? Die Menschenrechte sind ja wie das Fundament unserer Werte. Woher kommen die? Aus der Aufklärung. Aber woher kommt die Aufklärung? Woher kommen diese Ideen? Wenn man dem geistesgeschichtlich nachgeht - und das habe ich über Jahre gemacht - kommt das aus dem Christentum. Den Humanismus in dem Sinne gäbe es ohne Christentum gar nicht. Es gäbe keinen Humanismus. Der Beweis für diese These: Es gibt ein Buch von Larry Siedentop, "Die Erfindung des Individuums", ein dickes Ding. Er ist ein Spezialist für die Frage: Woher kommen Ideen, geistesgeschichtlich? Interessant ist bei der Idee der Menschenrechte, oder konkret, dass jeder Mensch würdig ist - in sich selber, ohne Aussenleistung, ohne Aussenattribute, einfach in sich - und zwar jeder Mensch, auch Frauen, Kinder, sogar ungeborene Kinder... Diese Idee ist in der Antike komplett undenkbar. Eine völlig absurde Idee. Das kommt mit dem Christentum wie ein ausserirdisches Raumschiff rein und entfaltet sich dann über die Jahrhunderte. Öffnen wir heute die Landkarte der Welt... und schauen alle Gebiete an, in denen das Christentum nie eine wesentliche Rolle spielte: der grosse asiatische Raum, der grosse islamische Raum, grosse Teile von Afrika. Wir sehen uns den Raum mal an: Genau dort sind die Menschenrechte bis heute nicht akzeptiert. Auch in Indien nicht. Das ist kein Zufall. Daher kann man heute einfach die Landkarte ansehen: Dort, wo das Christentum eine Rolle spielte, gibt es Menschenrechte. Zufall? Ich glaube nicht. Es brauchte das Christentum. Was passiert also, wenn man es abschneidet? Ja, was passiert? - Es wird sehr kalt werden. Von der Art her. Also Leistung und Mensch optimieren, alles immer intensiver und schneller machen... Ich bin das, was ich leiste, wenn ich einen Output habe.» (Zitate und Übertragung aus Mundart-O-Ton gemäss Mediendatenbank Swissdox, ab 00:20:17)
Giuseppe Gracia begründet mit diesen Aussagen, wie er zu seiner persönlichen Einschätzung des Zusammenhangs zwischen den Einflüssen des Christentums und der Ausprägung der Menschenrechte kommt. Es handelt sich erkennbar um seine individuelle Meinung, die als Gedankenanstoss in den Raum gestellt wird. Giuseppe Gracia tut das als Interviewgast in dieser Sendung damit genauso, wie eine Vielfalt von Gästen dies in weiteren Folgen von FENSTER ZUM SONNTAG mit ganz anderen und teilweise gegensätzlichen Erfahrungshintergründen und Meinungen tun.
«Was für ein arroganter, erzkatholischer und erzkonservativer Fundamentalist. Warum gibt SRF diesem Scharfmacher eine Plattform? Für mich ist das Fenster zum Sonntag mehr als nur fragwürdig.»
Herr X führt nicht aus, auf welchen Aussagen in der Sendung seine Einschätzung von Giuseppe Gracia als «arroganter, erzkatholischer und erzkonservativer Fundamentalist und Scharfmacher» beruht. In der Sendung geht Gracia jedenfalls auf die Frage ein, wie er damit umgehe, dass er als Sprecher des Bistums Chur in der öffentlichen Meinung als eher konservativ wahrgenommen werde. In der Antwort betont er, dass ihm der demokratische Diskurs wichtig sei und dass man Meinung (die man offen äussern solle) und Mensch (den man nicht abstempeln dürfe) klar trennen soll – und dass ehrverletzende Aussagen und Aufrufe zur Gewalt nicht von der Meinungsfreiheit geschützt und nicht akzeptabel seien. Gracia relativiert dabei auch seine eigene Meinungsäusserung und postuliert keinen Absolutheitsanspruch: «Ich gehe davon aus, dass der Diskurs für eine Gesellschaft ein Entwicklungsbeschleuniger ist. Ich gehe nicht davon aus, dass jemand die Wahrheit hat, sondern, dass wir uns alle spiegeln müssen und wieder infrage stellen, damit wir uns weiterentwickeln können. Und darum ist die Diskursfreiheit viel wichtiger als einzelne Meinungen, die vielleicht wirklich doof oder daneben sind.» (Zitate und Übertragung aus Mundart-O-Ton gemäss Mediendatenbank Swissdox, ab 00:16:33)
Wie oben erwähnt, will FENSTER ZUM SONNTAG mit seinen Sendungen mit Talkgästen aus unterschiedlichsten Hintergründen dazu beitragen, dass das Publikum sich eine eigene Meinung bilden kann; die Ansichten der Sendungsgäste sind dabei stets als solche erkennbar.
«Neben der hanebüchenen Behauptung, dass nur die christlichen Staaten die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten und durchsetzen, ruft Herr Giuseppe Gracia zum Hass gegen Lesben, Schwule und Transgender auf. Ich weiss aus meinem Familien- und Bekanntenkreise, dass viele mein Entsetzen teilen.»
Giuseppe Gracia macht in der beanstandeten Sendung keinerlei Aussagen zur Homosexualität, noch ruft er in irgendeiner Form «zum Hass gegen Lesben, Schwule und Transgender auf.
Aus genannten Gründen erkennen wir in der Sendung «Welt ohne Weihnachten» keine Verletzung von Artikel 4 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG – SR 784.10).“
Einschätzung des Ombudsmanns
Guiseppe Gracia war Gast in einer Gesprächssendung mit dem Moderator Ruedi Josuran in der Fernsehsendung „Talk“ des Sendegefässes „Fenster zum Sonntag“. Der Gast wurde mit einem Off-Text zu Beginn der Sendung eingeführt und ich wusste als Zuschauer bereits vor der ersten Frage des Moderators ein paar wesentliche Fakten über Herrn Gracia. Im Verlaufe der Sendung wurde er über sein Leben und insbesondere über seine Anschauung zum Christentum und zum Glauben befragt. Das Gespräch fand in einer angenehmen und ruhigen Atmosphäre statt. Aufrufe von Herrn Gracia "zum Hass gegen Lesben, Schwule und Transgender" konnte ich keine feststellen. Ob dies Herr Garcia - sei es persönlich oder in seiner Funktion als Mediensprecher des Bistums Chur je getan hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Diesbezügliche Nachforschungen habe ich nicht vorgenommen und sie wären für die Beurteilung der vorliegenden Programmbeanstandung auch irrelevant. Fakt ist, dass der Interviewgast keine Aufrufe zum Hass gegen Lesben, Schwule und Transgender in der von Ihnen beanstandeten Sendung aussprach.
Sie kritisieren weiter die Aussagen von Herrn Gracia über den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Christentum. Gracia leitet die Menschenrechte als ein Fundament unserer Werte aus der Aufklärung, deren Ideen aus dem Christentum hergeleitet worden seien, ab. Überall dort, wo das Christentum eine Rolle spielte, gäbe es Menschenrechte. In den Gebieten, in denen das Christentum nie eine wesentliche Rolle spielte (grosser asiatischer Raum, grosser islamischer Raum, grosse Teile Afrikas, Indien) seien die Menschenrechte bis heute nicht akzeptiert. Nach Gracia gibt es keinen Humanismus ohne das Christentum und die Menschenrechte resp. die Menschenwürde sei in der Antike komplett undenkbar gewesen und habe sich erst mit dem Christentum verbreitet. Guiseppe Gracia bezeichnet seine Ausführungen selber als "These" und bezieht sich dabei offenbar auf eine (einzige) Quelle, ein Buch von Larry Siedentop ("Die Erfindung des Individuums"). Die Äusserungen des Gesprächsgasts zu dieser Thematik sind als seine eigene Meinung klar erkennbar. Ob sie sich nur auf eine Quelle stützen und überhaupt wissenschaftlich haltbar sind, sei dahingestellt. Es ist hier nicht der Ort, einen wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema zu führen, auch wenn ich es nicht verkneifen kann anzuführen, dass bereits in der Antike erste Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechte formuliert wurden und das Christentum wohl kaum als alleinige Grundlage jener betrachtet werden kann. Der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Christentum war nur ein Thema unter vielen in der Sendung. Der Moderator hätte vielleicht noch etwas kritisch nachfragen können, durfte es aber meines Erachtens auch sein lassen und andere Themen angehen zum persönlichen Bezug des Gastes zur Glaubens- und Lebensgestaltung. In diesen weiteren Themenblöcken ging es um seinen individuellen Werdegang, seine Funktion als Bistumssprecher oder seine Ansichten zum demokratischen Diskurs. Für mich war es interessant, einen Einblick in das Leben und Denken von Herrn Gracia zu erhalten. Seine Ansichten müssen nicht von allen Zuschauerinnen und Zuschauern geteilt werden. Diesen Absolutheitsanspruch postuliert er selber auch nicht. Der Interviewgast vermag zu polarisieren, war aber nie beleidigend oder ausfällig. Eine Programmrechtsverletzung kann ich nicht feststellen.
Ich bitte Sie, das vorliegende Schreiben als meinen Schlussbericht gemäss Art. 93 Abs. 3 RTVG entgegenzunehmen. Über die Möglichkeit der Beschwerde an die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI orientiert Sie das beigefügte Merkblatt.
Mit freundlichen Grüssen
Dr. Oliver Sidler Ombudsmann