NZZFormat - Film «Respekt in der Schule - Jenseits von Macht und Gewalt» vom 10. August 2023

Beanstandung des Films «Respekt in der Schule - Jenseits von Macht und Gewalt» vom 10. August 2023 - NZZFormat

Schlussbericht des Ombudsmanns

Sehr geehrte Frau X

Ihre Beanstandung habe ich erhalten und die Chefredaktion von PresseTV zur Stellungnahme aufgefordert. Mit Schreiben vom 7. September 2023 ist die Stellungnahme bei mir eingetroffen.

Ich habe mir den beanstandeten Beitrag eingehend und in voller Länge angesehen, die Stellungnahme des Veranstalters gelesen und mir meine Gedanken gemacht. Ich kann Ihnen daher meinen Schlussbericht zukommen lassen.

Nach Art. 93 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) prüft die Ombudsstelle die Angelegenheit und vermittelt zwischen den Beteiligten. Sie kann insbesondere die Angelegenheit mit dem Veranstalter besprechen, oder ihm in leichten Fällen zur direkten Erledigung überweisen. Sie kann auch für eine direkte Begegnung zwischen den Beteiligten sorgen, Empfehlungen an den Programmveranstalter abgeben oder die Beteiligten über die Zuständigkeiten, das massgebende Recht und den Rechtsweg orientieren. Nach Art. 93 Abs. 2 RTVG hat die Ombudsstelle keine Entscheidungs- oder Weisungsbefugnis.

1. Beanstandung

«Verstoss gegen das Sachgerechtigkeitsgebot:

Im Film wird nur ein Ausschnitt von Interventionsmöglichkeiten im Kontext der Schule dargestellt. Es fehlt eine ausgewogene Darstellung anderer anerkannter Vorgehensweisen. Schulsozialarbeit ist in der deutschen Schweiz ein in vielen Gemeinden gut etabliertes und wissenschaftlich evaluiertes Angebot der Jugendhilfe. Die Offstimme (Minute 24.30) leitet die Aussage von Thomas Richter wie folgt ein: «... er (Thomas Richter) sieht jedoch in möglichst viel Schulsozialarbeit nicht unbedingt die beste Lösung...». Thomas Richter meint dann: «... viele Gemeinden machen das so, dass sie einfach immer mehr Hilfsangebot aufbauen...».

Diese Aussagen können suggerieren, dass mehr Prozente der Schulsozialarbeit die Beziehung der Lehrperson zu den Kindern schwächen, da sie die wichtige Aufgabe des Begleitens der Jugendli-chen an die Schulsozialarbeit delegieren würden. Es handelt sich dabei um die subjektive Ein-schätzung von Herrn Richter. Aus fachlicher Sicht der Sozialen Arbeit ist diese Aussage nicht haltbar und bedarf im Film einer Gegendarstellung. Denn es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Grad der Präsenz von Schulsozialarbeit und der Beziehungsgestaltung von Lehr- und Fachpersonen zu Kindern/Jugendlichen, geschweige denn zu Delegationen von Aufgaben der Lehrpersonen an die Schulsozialarbeit. Im Film wird allen Professionellen im Handlungsfeld Schulsozialarbeit mangelndes Rollenbewusstsein unterstellt.

Die Schulsozialarbeit ist eine zentrale, anerkannte Akteurin im Kontext des durch die Sendung behandelten Themas. Die Sicht- und Arbeitsweise der Schulsozialarbeit wurde im Beitrag nicht dargestellt und Schulsozialarbeitende hatten keine Möglichkeit, sich zu der abwertenden Aussage zu äussern. Dadurch wurde einseitig und für die Schulsozialarbeit rufschädigend berichtet. Sozialen Arbeit ist diese Aussage nicht haltbar und bedarf im Film einer Gegendarstellung.

Verstoss gegen das Transparenzgebot:

Die Aussage von Herrn Richter (ab Minute 24:30) ist nicht ausreichend als seine persönliche Meinung erkenntlich und bedarf somit einer Korrektur.»

2. Stellungnahme Veranstalter

«Gerne nehmen wir Stellung zu den Programmbeanstandungen zu unserem Film "Respekt in der Schule", ausgestrahlt am 10.08.2023 im SRF, ein Film aus der Reihe NZZ Format.

Autor: Sören Senn

Abnehmender Redaktor: Markus Stein

Produzierendes Unternehmen: Neue Zürcher Zeitung

Programmveranstalter: PresseTV

Die Kritikpunkte halten wir für unangebracht und können sie nicht nachvollziehen.

Transparenzgebot / Trennung von Fakten und Kommentar:

Sowohl mit dem Kommentar-Satz "Er sieht...", als auch mit der Aussage von Thomas Richter: "Mir ist irgendwann aufgefallen, dass..." ist sogar im doppelten Sinne zum Ausdruck gebracht, dass es sich um die persönliche Ansicht von Thomas Richter handelt. Der ganze Wortlaut in der Szene lautet wie folgt: KOMMENTAR 10:24:29:01 «Thomas Richter wird oft auch zu akuten Problemen gerufen. Er sieht jedoch in möglichst viel Schulsozialarbeit nicht unbedingt die beste Lösung.»

THOMAS RICHTER 10:24:40:18 (übersetzt aus Schweizerdeutsch) «Mir ist irgendwann aufgefallen, dass ich um Wirkung zu erzielen vor allem schauen muss, dass die Werkzeuge im Umgang mit schwierigen Situationen möglichst an der Front sind, das heisst bei den Lehrpersonen, bei den Eltern und bei den Kindern. Viele Gemeinden machen das so, die bauen einfach immer mehr ein Hilfsangebot auf. Und dann passiert häufig folgendes: die Lehrpersonen verabschieden sich immer stärker aus dem Sozialen, ein bisschen - und ich versuche das zu kompensieren. Aber es ist schwierig, eine Lehrperson zu kompensieren, weil sie ist so wichtig, sie hat die Beziehung zu den Kindern, sie hat eine riesige Präsenz; also sie ist im Sozialen in dem Sinne nicht ersetzbar durch mich.» Die Filmerzählung geht direkt mit folgendem Kommentar weiter: «Präsent sein und Beharrlichkeit zeigen, darauf zielt auch das Engagement von Franziska Stöckli; sie leitet das Programm „Stay in School“, dass sich gezielt um herausfordernde Kinder und Jugendliche in Zürichs Norden kümmert.»

Auch durch diesen Kontext wird deutlich, dass es im Film um Themen geht, die mit präsenter und aktiver »Schulsozialarbeit» zu tun haben. In diesem Sinne verstösst der Beitrag nicht gegen Art. 4 Abs. 2 RTVG, da klar zum Ausdruck kommt, dass es sich um die Meinung von Herrn Richter handelt.

Sachgerechtigkeitsgebot

Die Behauptung der Beschwerdeführenden, dass dem im Film auftretenden Protagonisten Thomas Richter als «selbst ernannte(m) Experte(n)» jegliche «wissenschaftliche Basis» fehle, halten wir für unangebracht. Thomas Richter ist als Leiter des «Schweizerischen Institut für Gewaltprävention» https://www.sig-online.ch/ regelmässig als Experte in Funk und Fernsehen eingeladen. Seine Aus- und Weiterbildungen sind öffentlich einsehbar. Auch unterstützt das «Schweizerische Institut für Gewaltprävention nach eigener Aussage «rund 300 Schulen in der Deutschschweiz in den Bereichen Präventionsarbeit, Hilfe in schwierigen Situationen, Weiterbildung und Schulsozialar-beit». Die Schule Uerkheim, die den Präventionsexperten engagiert (wie viele andere Schulen auch), macht dies aus freien Stücken und macht die Erfahrung, dass seine Arbeit sehr erfolgreich und zielorientiert ist. Diese konkrete Erfahrung ist der Ausgangspunkt für die konkrete Erzählung über die Kinder und die Lehrerin, die natürlich beispielhaften Charakter bekommt. Aber das ist bei jeder konkreten dokumentarischen Erzählung so, sie kann keine Gesamtsituation abbilden. Auch hier ist kein Verstoss gegen Art. 4 Abs. 2 RTVG ersichtlich.

Vielfaltsgebot

Obwohl PresseTV als nichtkonzessionierter Programmveranstalter sich nicht an das Vielfaltsgebot zu halten hat (vgl. Art. 4 Abs. 4 RTVG), folgende Ausführungen: Der Film behauptet weder im Titel noch sonst an einer Stelle, das Thema Schulsozialarbeit als Ganzes darstellen zu wollen, sondern fragt anhand von konkreten und ausgewählten Beispielen, wie man auf Autoritätskrise und Gewalt in der Schule reagieren kann (anhand von drei Erzählsituationen, wobei die Geschichte mit Thomas Richter und der Primarschule Uerkheim vor allem das Thema Prävention abdeckt). Der Film examiniert nur das, was sich anhand der drei Geschichten und der darin dargestellten Aktivitäten an Themen ergibt und stellt ebendiese auch nicht – wie behauptet – unterkomplex dar.

Allgemeine Bemerkung zur Beanstandung

Die Beanstandung erscheint uns auch deswegen schwer nachvollziehbar, weil ja der Film als Ganzes ein Aufruf zu stärkerem sozialem und pädagogischem Engagement darstellt. Der Film macht deutlich, dass es sich lohnt, mehr Ressourcen (also in einem umfassenden Sinne auch mehr Schulsozialarbeit) zu investieren, um Kinder und Jugendliche (wieder) in die richtigen Bahnen zu lenken.

Wir fragen uns, ob die Beschwerden weniger mit dem Film und mehr mit einem Konflikt zwischen staatlichen Schularbeitsverbänden und dem privat-wirtschaftlichen «Schweizer Institut für Gewaltprävention» von Herrn Richter (z.B.: https://ssav.ch/de/aktuelles/mobile-ssa) zu tun haben.

Die Behauptung, wir würden für eine einzelne Herangehensweise ungerechtfertigt Werbung machen, ist irreführend. Der Film beleuchtet drei verschiedene Ansätze in völlig unterschiedlichen Kontexten, die einen gemeinsamen Nenner haben: über den Erfolg von mehr Achtsamkeit und mehr Fürsorge im schulischen Kontext zu berichten.»

3. Einschätzung des Ombudsmanns

Zuerst einmal ist zu bemerken, dass im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens vor der Ombuds-stelle das Gegendarstellungsbegehren nicht berücksichtigt werden kann. Diesbezüglich ist auf den Zivilweg gemäss Art. 28 ff. ZGB zu verweisen. Soweit auch eine Persönlichkeitsverletzung geltend gemacht wird, ist ebenfalls auf diesen Weg zu verweisen.

Beanstandet wird von Ihnen bei der rund 50 Minuten dauernden Dokumentation mit dem Titel „Respekt in der Schule - Jenseits von Macht und Gewalt“ eine kurze Szene mit Aussagen eines Präventionsexperten. Der Film insgesamt zeigt Möglichkeiten auf, wie ohne Ausschluss und Bestrafung gegen Gewalt an der Schule und Autoritätsverlust von Lehrpersonen vorgegangen werden kann. An drei Beispielen - Umsetzung des Konzepts der „neuen Autorität“ von Haim Omer, Intensivcoaching einer Schülerin und Gewaltpräventionstraining an einer Schule - werden „Alternativen im Umgang zwischen respektlosen Jugendlichen und hilflosen Lehrpersonen“ (Pressetext zum Film, https://www.nzz.ch/panorama/respekt-in-der-schule-ld.1750) vorgeführt.

Unmittelbar vor der beanstandeten Szene wird eine Schulklasse gezeigt, wie sie mit Emotionen umgeht, auch in einer Wettbewerbssituation oder bei Raufereien. Dabei ging es aufzuzeigen, wie es möglich ist, bei einer Aufgabenbewältigung oder einem Spiel einerseits die Energie und das Feuer hineinzubringen und andererseits gewahrt zu sein, dass das Engagement nicht kippt, in eine Wut, wenn es nicht gelingt. Beispielsweise wurde gezeigt, dass man sich nicht ärgern soll in einer Wettbewerbssituation, wenn nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich schnell die Bälle in einen Topf werfen können. Danach folgt die beanstandete Szene. Der Off-Sprecher beginnt damit, dass Thomas Richter oft auch zu akuten Problemen gerufen werde. Zitat: „Er sieht jedoch in möglichst viel Schulsozialarbeit nicht unbedingt die beste Lösung.“ Das darauffolgende Statement von Thomas Richter lautet – übersetzt aus dem Schweizerdeutschen – gemäss Stellungnahme des Veranstalters wie folgt: „Mir ist irgendwann aufgefallen, dass ich um Wirkung zu erzielen vor allem schauen muss, dass die Werkzeuge im Umgang mit schwierigen Situationen möglichst an der Front sind, das heisst bei den Lehrpersonen, bei den Eltern und bei den Kindern. Viele Gemeinden machen das so, die bauen einfach immer mehr ein Hilfsangebot auf. Und dann passiert häufig folgendes: die Lehrpersonen verabschieden sich immer stärker aus dem Sozialen, ein bisschen - und ich versuche das zu kompensieren. Aber es ist schwierig, eine Lehrperson zu kompensieren, weil sie ist so wichtig, sie hat die Beziehung zu den Kindern, sie hat eine riesige Präsenz; also sie ist im Sozialen in dem Sinne nicht ersetzbar durch mich.» Unmittelbar nach diesen Aussagen folgt ein Szenenwechsel mit der Darstellung des Engagements der Leiterin des Programms „Stay in School“, welches sich gezielt um herausfordernde Kinder und Jugendliche im Zürcher Norden kümmert. Eingeleitet wird diese neue Szene vom Off-Sprecher mit folgenden Worten: „Präsent sein und Engagement zeigen“. Ich habe mir die beanstandete Szene mehrmals angesehen und diese insbesondere in den Gesamt-kontext des Films gesetzt. Für mich kam die Aussage des Off-Sprechers, dass möglichst viel Schulsozialarbeit nicht unbedingt die beste Lösung sei, völlig unverhofft und ohne jeglichen Zusammenhang. Bis du dieser Aussage wurde mit keinem Wort über die Leistungen der Schulso-zialarbeit oder auch deren Defizite gesprochen. Die Aussage zur Schulsozialarbeit muss in Bezug zum Einleitungssatz, wonach Thomas Richter oft auch zu akuten Problemen gerufen werde, betrachtet werden. Verstanden wird somit, dass bei akuten Problemen Schulsozialarbeit nicht unbedingt die beste Lösung sei. Begründet wird dies mit der mangelnden Nähe zu den Schülerin-nen und Schülern, welche durch die Lehrpersonen sichergestellt werde. Bei der Schulsozialarbeit verabschiede sich die Lehrperson vom Sozialen und werde ersetzt durch ein Hilfsangebot.

Mit diesen Aussagen wird ein neuer Aspekt im Film angesprochen. Leider werden die Zuschauerin und der Zuschauer mit dieser angesprochen Abgrenzung und Kritik zur Schulsozialarbeit allein gelassen. Es gibt keine Einordnung. Es wird nicht erklärt, was Schulsozialarbeit leistet und welche Bedeutung sie im Schulalltag hat. Der Zuschauer und die Zuschauerin haben so gar keine Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu den Vorwürfen zu bilden. Klar ist, dass es sich bei den Aussagen des Präventionsexperten um eine persönliche Meinung von Thomas Richter handelt. Der Off-Sprecher benutzt die klare Formulierung „er sieht …“. Dies ist offenkundig und auch mit dem folgenden Statement von Thomas Richter ist für die Zuschauerin und den Zuschauer erkennbar, dass es sich um seine persönliche Meinung handelt. Er ist der Meinung, dass in vielen Gemeinden ein Hilfsangebot aufgebaut würde und sich die Lehrpersonen immer stärker aus dem Sozialen verabschieden würden. Er versuche, dies zu kompensieren und ist der Meinung, dass eine Lehrperson im Sozialen in dem Sinne nicht ersetzbar sei durch eine Hilfsperson. Dies führt aber nicht dazu, diese Aussagen besser zu verstehen oder einzuordnen und auch nicht dazu, sich eine eigene Meinung dazu bilden zu können.

Man könnte argumentieren, dass es sich bei dieser kurzen Sequenz nur um einen unwesentlichen Nebenpunkt handelt, der zur Meinungsbildung des Publikums nicht weiter massgebend sei. Meines Erachtens jedoch erfährt der Film mit den beanstandeten Aussagen eine neue Wendung mit einer unwidersprochenen Kritik an der traditionellen Schulsozialarbeit und dem einseitigen Hervorheben einer einzelnen Methode zur (präventiven) Konfliktbewältigung. Die Zuschauerin und der Zuschauer erhalten zu den im Film gezeigten Beispielen ein positives Bild zu den angewandten Methoden. Die Schulsozialarbeit auf der anderen Seite wird nicht näher erläutert und thematisiert, sondern durch eine Meinungsäusserung kritisiert. Diese Darstellungsform verunmög-licht es den Zuschauerinnen und Zuschauer, sich ein eigenes Bild zu den dargestellten Informatio-nen zu machen.

Aus programmrechtlicher Sicht ist ein Film, der ausgewählte Lösungsmöglichkeiten zum Erlangen von Respekt in der Schule, jenseits von Macht und Gewalt, zeigt, grundsätzlich unproblematisch. Es ist dabei nicht notwendig, sämtliche Aspekte der vorhandenen Dienstleistungen (inkl. Schulso-zialarbeit) darzustellen. Das Vielfaltsgebot verlangt nicht, dass jede einzelne Sendung sämtliche Ansichten und Meinungen darzustellen hat. Aber die überraschend erschienene Äusserungen von Herrn Richter zur Schulsozialarbeit, die als seine persönliche Meinungsäusserung erkennbar war, bedurfte der Einordnung und Erläuterung und war – wie oben dargestellt - geeignet, das Publikum in seinen Möglichkeiten, sich eine eigene Meinung zu bilden, zu beeinflussen.

Ich bitte Sie, das vorliegende Schreiben als meinen Schlussbericht gemäss Art. 93 Abs. 3 RTVG entgegenzunehmen. Über die Möglichkeit der Beschwerde an die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI orientiert Sie das beigefügte Merkblatt.

Mit freundlichen Grüssen

Dr. Oliver Sidler Ombudsmann